Warum diese Flasche noch viel größer ist, als sie aussieht

Donnerstag Nachmittag komme ich auf dem Weg nach Westhofen in Osthofen an und werde von einem bis über beide Ohren offenherzig strahlenden Winzer vom Bahnhof abgeholt. Genau dieses einladende Freudestrahlen spiegelt sich in seinen Weinen wieder und ich war gespannt, den Menschen und seine Lebensphilosophie kennenzulernen. Das Weingut Bergkloster wird in fünfter Generation von Familie Groebe geleitet und der Hof steht im beschaulichen Dörfchen Westhofen. Im Innenhof links und rechts der Einfahrt begrüßen sogleich altehrwürdige Huxelreben und ein fast haushoher Stahltank glänzt in der Sonne. Haus und Weinkeller erstrecken sich über mehrere Etagen, in einen Hügel geschmiegt, die Trauben kommen auf der Ohligstraße an und die fertigen Flaschen werden nach hinten, hinaus zwei Etagen tiefer, in der Seegasse ausgeliefert. Jason wohnt in der Mitte, links seine Eltern und rechts direkt an den Weinkeller angrenzend. Als Gast durfte ich mich im Zimmer mit großem Bogenfenster zum kleinen Garten hinaus wohlfühlen, in der unteren Etage des Elternhauses. Willkommen im Wonnegau, dem Land der tausend Hügel!

Nach einem herzlichen Empfang und Rundgang ging‘s auf in den Weinberg, dort wo der Marstein Riesling wächst, der eigentlich Morstein heißt, eine besondere Lage im Wonnegau mit seinen nach Süden ausgerichteten sanft abfallenden Kalkböden. Man merkt es Jason an, wie sehr er dieses Fleckchen Erde, dass in seiner Obhut liegt, zu schätzen weiß. Er sieht es eher gelassen, dass die VDP Verordnungen seiner Interpretation des Rieslings den Namen aberkennen und der Marstein Riesling als Landwein zu genießen ist. Wir schauen uns auch den Riesling auf der Aulerde und den Weißburgunder auf Böden mit etwas mehr Lössanteil an, mit blinzelnden Augen in der kühlen Abendsonne stehend, und Jason gibt einen Einblick in die Eigenheiten und die Weintradition der Region, in der immer mehr junge Winzer das Wort Tradition auf den Prüfstand nehmen und in zukunftsorientierte Bahnen lenken. Ein Thema, das wir später beim Abendbrot und nicem Weiss noch vertiefen.

Aus vorgefertigten Denkmustern und Gewohnheiten ausbrechen, um zu einer nachhaltigeren und genügsamen Wirtschaftsweise zurückzufinden. Den Kern der Tradition wieder freilegen und mit Blick auf die Zukunft neu beleben. Dabei spielt der wirtschaftliche Faktor erstmal eine untergeordnete Rolle. Vielleicht auch deshalb, weil die vorhergehenden Generationen eine gute Basis geschaffen haben, und der materielle Druck weniger präsent ist. Die Chance ist gegeben von dieser Basis aus, einen beobachtenden Blick einzunehmen und auf Abwege geratene Methoden in Frage zu stellen. Besonders in Bezug auf die Natur und die davon abhängende eigene Lebensqualität. Wo verläuft die Grenze zwischen Schaffen um des Schaffen Willens und Schaffen im Willen des Sinnes? Diese Frage hat mich die letzten Tage begleitet und die verschiedenen Winzer haben sie jeweils auf ihre eigene Art und Weise ein Stück weit beantwortet.
Am Freitag Abend, nach einem Vormittag im Weinberg und einem Nachmittag im Keller zum Entdecken des neuen Jahrgangs, der noch in den Stück und Halbstückfässern langsam aus dem Winterschlaf erwacht, fahren wir zu Andi Mann nach Eckelsheim. Hier genau das gleiche, die Energie und die Leidenschaft, für das was er da macht, ist so groß, dass ich komplett vergesse, Photos oder Notizen zu machen, ich lasse mich einfach treiben, von den unzähligen kleinen Details und Eindrücken des über dreihundert Jahre in Verschachtelungen gewachsenen Weinguts, teils aus Porphyrgestein gebaut, dem dieser Region kargen typischen Vulkangestein und bei jedem Raum, Gerät und Behälter, an dem wir uns aufhalten, erklärt Andi mit leuchtenden verschmitzten Augen den Zweck und die Gegebenheiten, mit viel Witz und Fachwissen, während wir die in die Knochen gehende Kälte des Kellers bei schwenkenden Gläsern vergessen, Antoine, ein Wanderwinzer aus Frankreich, Jason und ich, und zwischen den gustativen und technischen Informationen in eine Art Strudel verfallen, ein Fass nach dem anderen erörternt. Andi probiert gerade viel mit Kohlensäuremaischung bei weißen Trauben, was besonders dem Müller-Thurgau nochmal eine ganz andere Dimension verleiht. Antoine hat eine Idee aus dem Elsass mitgebracht, mit einer Technik, die Trempette genannt wird zu arbeiten, und das erste Fass ganzer Riesling Trauben, die in direkt gepresstem Grauburgunder vergoren wurden, ist voll gelungen.
Ein Liebling von Andi, der Rot, wird leider vom breiten Publikum nicht so wahrgenommen. Woran kann das liegen, fragen wir uns. Es ist ein ungewohnter Rotwein, glou-glou, aber auf deutsche Art und Weise, etwas weniger Frucht, herber, erdiger mit einer intrigierenden Bitternote und sanftem doch dabei wildem Tannin. Das ist erst ungewohnt, der Gaumen ist vorerst konsterniert, aber so wie alles Gewohnheitssache ist, kann ich mir vorstellen, dass diese Eigenschaft das Potential eines Alleinstellungsmerkmals für süffige Naturweine aus Deutschland hat, und einen enorm hohen Spaßfaktor, lässt man sich darauf ein. Dann gibt es eine überbordende Käseplatte in der gemütlichen modernen Landhausküche und noch mehr Wein, zum Vergleichen, Austauschen und Freude teilen.
Die Reinheit, Präzision und Geradlinigkeit der wilden jungen Weine, die ich in Rheinhessen probieren durfte, ist beachtlich. Das hat auch der Besuch bei Max Dexheimer in Saulheim am Samstagnachmittag noch einmal bestätigt. Als wir ankamen war Max gerade dabei gekürzte Bäume und Hecken auf dem Weingut zu Mulch zu hechseln, der im Weinberg ausgetragen die Bodenfeuchtigkeit hält. Auch dieses Weingut hat eine lange Tradition und ist verschachtelt in Haupt und Nebengebäuden und diversen Wegen, die zu dem Steinkeller führen, in dem mehrere lange Reihen altes und neues barrique Max’ Liebe zum Pinot Noir beinhalten. Gegenüber davon die Halbstückfässer mit dem neuen Jahrgang, von dem wir Silvaner, Weissburgunder, Chardonnay, Sauvignon, Riesling, Portugieser und natürlich den Probstey Pinot Noir probieren.
Max klärt besonnen über den Inhalt der Fässer auf und zeigt einen Queerschnitt seiner gelungenen Ambitionen, der von ihm 2018 ins Leben gerufenen Linie von möglichst naturnahen Weinen. Alle drei Weingüter dieser Reise sind dabei, den Betrieb nach und nach von den Eltern zu übernehmen und die Zukunft so selbstbewusst wie kompromissbereit in aller Ruhe neu zu definieren. Geringe Eingriffe und rebenorientiertes Denken als Leitmotiv. Dabei erhalten sie größtenteils Vertrauen und Unterstützung von der älteren Generation, die die Resultate der zum Teils verrückt daherkommenden Ideen anerkennend zur Kenntnis nehmen.
Zuvor haben wir eine Tour im Weinberg gemacht, zuerst entlang den 5 Hektar verschiedener Rebsorten in der Probstey, die schweren Böden spürt man unter den Füßen, an einigen Stellen mit Flecken Lösssand und riesigen Hasenlöchern die sich in diesen der feinen Möglichkeit zum Bau erfreuen. Das hier einmal das Meer war, zeigen die vereinzelt umher liegenden Muscheln im Weinberg. Wie bei allen Winzern ist der Klimawandel ein Thema, der besonders das Verhältnis zu der Arbeit mit den Böden zu anderen Vorhergehensweisen zwingt. Die Möglichkeiten der Begrünung, Winterbegrünung, ewige Begrünung, Mulchen des Bodens werden hinsichtlich der Auswirkungen und Erfahrungen und etwaigen Problemen diskutiert, jeder Arbeitsschritt kann wieder neue Probleme mit sich bringen, die vorher abzuwägen sind. Irrigation ist auszuschließen bezüglich Resistenzfähigkeit der Rebe, dem Wurzeln und Erosionsproblemen. Überhaupt denken die Winzer*innen immer lange voraus, in Zyklen der Pflanze, bei Neubepflanzungen auf ein Ziel in den nächsten zehn Jahren, wenn Hagel, Hasen, Frost und andere Umstände den Plänen nicht auf halben Wege den Garaus machen. Das zeugt von Stamina und Gelassenheit, Ruhe und Vertrauen in sich und die Natur. Ein absolut geniales Konzept, das auch für die Lebenslagen in der City beispielhaft sein könnte.

Wir fahren weiter im alten Bulli über die holprigen Feldwege zum Bechtheimer Heiligkreuz oder Pilgerfahrt, zum Chardonnay und Weißburgunder auf Lössböden, auf dem Weg dorthin treffen wir Philipp Freytag in seinem Weinberg arbeitend. Neben seinen 4 Hektar wirkt er auch im elterlichen Bestattungsinstitut mit, keine einfache Arbeit, lassen seine Erzählungen erlauten. Max öffnet eine Flasche 2018er Riesling, rieslingtypische Frucht mit ordentlich Zug von der Säure und fröhlicher Struktur. Passt genial zu dem Moment in der wonnigen Februarsonne und eisigem Wind an den Wangen. Die drei Winzer tauschen sich aus und erinnern sich an die Feste im Weinberg, nicht weit entfernt, am Wasserturm. Da fahren wir hin, nach geleerter Flasche, und Max erzählt, wie sein Opa neben ein paar Parzellen auch den Wasserturm ertauscht hat, damals ein Skandal für den Zwist zwischen Ober- und Nieder-Saulheim. Heute kann der Ort vom geselligen Beisammensein berichten, fast 1000 Leute kamen zum Saulheimer Weinfest, das Max mit Winzerfreund*innen organisiert. Im Windschatten vom Turm erzählt Max von einem Ereignis, das seine Herangehensweise an Weinbereitung offenlegt. “Wir sind raus zum Kanufahren und ich komme in die Strömung und will dagegen steuern, um Kurs zu halten. Dann erklärt mir der Älteste, “Max, mach mal locker, was kãmpfst Du Dich so ab? Schau wo die Strömung Dich hinbringt, die dreht Dich vielleicht ein, zweimal und dann geht’s weiter. Das macht keinen Sinn Deine Energie der Strömung entgegenzusetzen. Und so ist’s auch bei der Rebe und der Natur.”
Als wir gestern die Weine von Jason probiert haben, ein junges Team aus Oldenburg war auch dabei, im Begriff einen Laden mit Wein und Sauerteigbrot zu eröffnen, zeigt Jason die gleiche Gelassenheit. Er sieht sich nicht als Weinmacher per se, er begleitet seine Weine und seine Ideen über ein gewünschtes Ergebnis seiner Arbeit ersteht aus der Arbeit selbst und dem wachsenden Verständnis über diese. Alle Weine haben eine mineralische Eleganz inne, denn mit jedem Jahrgang möchte Jason dem Boden näherkommen, Weg von der Frucht und der Weg dorthin ist schon bestens nachzuverfolgen. Die Balance ist präsent, die Weine sind fein und quicklebendig, frisch und direkt. Maischegärung spielt eine immer kleinere Rolle, Direktpressung spiegelt das Terroir besser wieder. Es ist spannend, die einzelnen Komponenten der Cuvées Weiss und Rot zu probieren und noch hat Jason nicht entschieden, wann was zusammen auf die Flasche kommt, noch entwickelt sich alles. Dem Grauburgunder für den famosen Superlit, steht der Schalenkontakt aber richtig gut, der Name ist Programm.
Der beste Teil zum Abschluss, es waren besonders die Stunden im Weinberg, die den größten Eindruck hinterlassen haben.
Als Jason mir mehr oder weniger erfolgreich das Biegen der Reben erklärt hat und ich meine erste Bekanntschaft mit dem Beli-Binder machen durfte, der mich in nur kürzester Zeit vom Prinzip der Geduld überzeugen konnte. Jede Rebe hat einen eigenen Wuchs, Kraft oder Schwächen in unterschiedlicher Weise und das Biegen des Bogens erfordert volle Aufmerksamkeit, um nicht bei einem Handgriff die zarten Triebe zu beschädigen oder den kräftigen Arm zu brechen und somit die Rebe traubenlos dastehen zu lassen. Jason biegt im Flachbogen, um ein lockeres Laubdach zu gewährleisten und somit weniger Gefahr vor Pilzen bei guter Durchlüftung. Bricht doch mal ein Arm, ist es keine Katastrophe, sagt der Winzer, aber Du fühlst Dich auf einmal selbst geknickt, weil Du zu der Rebe eine Beziehung aufbaust, sobald Du anfängst Hand anzulegen und es Dir nach und nach dämmert, was für ein Universum an Möglichkeiten sich hier gerade auftut, bei dieser direkten Verbindung zwischen Dir und der Natur. Das hat unglaublich viel Potential zum Lernen und Verstehen. Und wenn Du der Natur näher kommst, dann kommst Du auch Dir näher. Das muss wohl die Erklärung sein, von der tiefen Zufriedenheit, die von Jason ausgeht und die er nicht nur über seine Weine, aber auch persönlich in die Welt trägt und freigiebig teilt.
Vor der Rückfahrt drückt Jason mir die große Flasche Marstein Riesling in die Hand, und ich vergieße eine Freudenträne, denn die Geste und das quasi lebende Objekt fassen die Erfahrungen der letzten Tage gut zusammen. Die simple Offenherzigkeit, das Lernen von- und miteiander und der Wunsch, das Erreichte weiterzugeben. Abseits von Profilierung, Profit und Macht, diesen Eigenarten, die sich aus mangelnder Wertschätzung und Anerkennungkomplexen entwickeln, ist es einfacher, etwas Wesentlichem näherzukommen. Das Wetteifern mit dem, was andere machen, scheint hier ein Relikt der Vergangenheit zu sein. Das eigene Ding zu machen, im gemeinschaftlichen Austausch mit Gleichgesinnten, klingt nach einer zukunftstauglichen Idee, nicht nur für eine Weinregion, in der exponentielles Wachstum noch immer dominiert.
Danke Familie Groebe, für die entspannten und besonderen Tage bei Euch.